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        September 2004 Sachsen als Küche des Ottonischen Reiches Vortrag von Prof. Dr. Ernst Schubert Sachsen, so äußerte vor 1000 Jahren Kaiser Heinrich 
        II., sei gleichsam ein paradiesischer Pflanzengarten, in dem 
        gleichermaßen Sicherheit („securitas") und Überfluss („ubertas") 
        herrschten. Dem scheint zu entsprechen, dass drei Generationen später 
        Sachsen als Küche des Reiches bezeichnet wurde. Unzweifelhaft lag hier 
        die Basis für das von 919 bis 1024 herrschende Haus der oft sogenannten 
        „Sachsenkaiser". Welche Wirklichkeit aber stand hinter dem Lobpreis 
        durch Kaiser Heinrich? Und: Konnte es nicht zweischneidig sein, wenn 
        Sachsen als Küche des Reiches bezeichnet, der Stamm zum Dienst für das 
        Königtum verpflichtet wurde? Was zur einfachen Beschreibung einlädt, 
        führt tatsächlich in ein dornenreiches Feld komplizierter Fragen: Wie 
        ist das Verhältnis Sachsens zu einer Königsherrschaft zu bestimmen, die 
        selbst erst noch genauer zu definieren ist. Was heißt denn „Sachsen", 
        was bedeutet „ottonisches Reich"? Und damit nicht genug. Kann ein 
        Jahrhundert deutscher Geschichte, ein an Kriegen und Aufständen, ein an 
        bedeutenden Herrschergestalten reiches Jahrhundert geschildert werden, 
        ohne eine Vielzahl von Fakten zu referieren? Ich möchte es versuchen, 
        möchte aber unter dem Vielen, das ich übergehe, einen Sachverhalt 
        hervorheben: Die Frauen ottonischer Herrscher, Mathilde, Adelheid oder 
        Theophanu, treten in der Geschichte viel profilierter, ja sogar in ihrer 
        Persönlichkeit erkennbarer hervor als in späteren Zeiten. Das hat mit 
        unserem Thema insofern etwas zu tun, als diese Herrscherinnen nicht in 
        Sachsen geboren waren. Wenn es im Laufe unserer Darstellung 
        vorübergehend so erscheinen mag, als hätten die Sachsen in 
        selbstgewissem Stammesstolz verharrt, so ist daran zu erinnern, dass 
        diese politisch so einflussreichen Frauen selbst als Regentinnen von den 
        Sachsen akzeptiert wurden. So viel auch an Ereignissen im folgenden 
        unterdrückt werden wird, so ist doch die zentrale Frage zu behandeln, 
        was Sachsen in ottonischer Zeit eigentlich war. 1. Das frühmittelalterliche Sachsen als Land des 
        Überflusses? Sachsen als Land des Überflusses. Sogar oft soll 
        diese Charakterisierung Kaiser Heinrich II. gebraucht haben, der letzte 
        der ottonischen Herrscher. Er war Herzog von Bayern gewesen, bevor er 
        1002 zum König gewählt wurde. Seine Äußerung überrascht. Denn blühendere 
        Landschaften als Sachsen hatte ein Herrscher gesehen, der zum Beispiel 
        in Mainz der alten Römerstadt gewählt wurde, in jener Stadt, von der 
        damals ein arabischer Reisender berichtete: Erstaunlich sei, was hier an 
        Gewürzen feilgehalten werde, an Gewürzen, die aus dem fernsten 
        Morgenlande stammen. Davon hatte man in Sachsen nichts gehört. Wenn 
        arabische Reisende etwas von diesem Raum zu rühmen wussten, dann war es 
        das Wasser des sogenannten Paderborner Metbrunnens. Nichts ansonsten 
        schien ihnen bemerkenswert.  Dieses Sachsen, von dem Heinrich II. gesprochen hatte, war 
ein Raumbegriff, der noch nicht elbaufwärts gewandert war. Er schloss noch 
Westfalen ein und reichte im Osten bis in das heutige Sachsen-Anhalt hinein. Die 
Elbe war weitgehend Grenzstrom gegenüber den Slawen. Das heutige Niedersachsen 
bildete den Kernraum des frühmittelalterlichen Stammesgebiets. Ein solches 
Gebiet aber ist nicht von moderner Flächenstaatlichkeit her zu verstehen, 
sondern von der Natur der Stämme als personaler Verbände gemeinsamen Rechts. Die 
Wandelbarkeit der damit verbundenen personalen Konstellationen erweist sich etwa 
darin, dass für Karl den Großen der Schwerpunkt Sachsens im Westen lag - 
Stichworte mögen Lippspringe und Paderborn sein - , während hundert Jahre später 
der Harzraum das politische Gravitationszentrum war, der Raum, in dem besonders 
die Liudolfinger begütert waren, jenes Geschlecht, aus dem die Kaiser stammten, 
die allgemein unter dem Namen Ottonen bekannt sind. Für die Welt vor 1000 Jahren ist die Frage der Ernährung ein 
Frage des Überlebens, die entscheidende Frage, wie sogar, genau gelesen, die 
Worte des Kaisers besagen. „Überfluss" besagt nur, dass es genug zu essen gibt. 
Und was heißt das konkret?  Die Untersuchung von Knochenfunden auf burgähnlichen Anlagen 
hat erbracht, dass um das Jahr 1000 noch Bären gejagt wurden, dass der Ur und 
der Elch im Sächsischen noch heimisch waren. Langsam erst hatte sich in jener 
Zeit der stationäre Roggenanbau durchgesetzt, von einer Fruchtwechselwirtschaft, 
von einer Dreifelderwirtschaft ist noch nichts bekannt. Das ist kein Wunder. Einzelhöfe, Weiler, 
        Streusiedlungen bestimmen die Agrarlandschaft. Dörfer haben sich noch 
        nicht als genossenschaftliche Gemeindeverbände entwickelt. Immer noch 
        gilt das Gebot des Herren eines Fronhofes, des „maior", des Meiers für 
        die Höfe, die von diesem Fronhof abhängig sind. Streusiedlungen. Bis zu 
        30 km musste manch ein Bauer laufen, um sein Kind in der Pfarrkirche 
        taufen lassen zu können. Erst 200 Jahre später war das Pfarrnetz enger 
        geknüpft. Einseitig war die Ernährung in diesen 
        Streusiedlungen, die genau genommen Siedlungskammern waren in einer 
        Umwelt der Urwälder, der ausgedehnten Moore, der versumpften Tal- und 
        Flußauen, kurzum in einer Umwelt, die jener Zeit als „terra inculta", 
        als unbebaubares Land, als „Unland" bedrohend und faszinierend zugleich 
        erschien. Standortgebunden, und das hieß: einseitig war die Ernährung in 
        diesen Siedlungskammern, abhängig von dem, was die unmittelbare 
        Gemarkung bot. Ein intensives Markt- und Handelsgeschehen erreichte 
        diese Siedlungskammern noch nicht. Städte im Sachsenland? Das mag am ehesten noch für 
        die Bischofsstädte zutreffen, ansonsten ist das urbane Leben diesem 
        Stamm noch fremd. Der Wandel der Zeiten ist am besten am Verhältnis 
        zwischen Goslar und Werla zu verfolgen. Werla war die traditionelle 
        Versammlungsstätte der Ostsachsen, jedermann kannte sie um das Jahr 
        1000; kaum jemand aber kannte damals den Namen des nahegelegenen Goslar. 
        Dieses wurde erst im 11. Jahrhundert, vornehmlich durch die Förderung 
        der salischen Kaiser und dem Bau des Stiftes St. Simon und Juda zur 
        geheimen Hauptstadt des Reiches. Die Zeitgenossen waren so erstaunt über 
        diesen Wandel, dass sie behaupteten, noch um das Jahr 1000 wäre Goslar 
        eine einfache Jagdhütte gewesen. Der Aufstieg Goslars bedeutete den 
        Abstieg Werlas. Die berühmteste Pfalz der ottonischen Zeit, also das 10. 
        Jahrhunderts, wurde von den salischen Kaisern nicht mehr besucht. Auf den ersten Blick gibt es wenig Anhaltspunkte dafür, dass 
Heinrich II. ein realitätsnahes Lob formuliert haben könnte. Aber es gab damals 
noch keine wissenschaftlichen Referenten, die ihm eine gediegene 
Wirtschaftsanalyse hätten vorlegen können. Der Kaiser urteilt nach Maßgabe 
dessen, was ihm und seinem Gefolge im Sachsenlande aufgetischt wurde; er gehörte 
zwar dem ottonischen Hause an, aber als Herzog von Bayern war ihm Sachsen lange 
fremd geblieben. Offenbar überraschten ihn, als er zum König gewählt worden war, 
die Zustände in dem Stammland seines Hauses. Und diese Zustände nahm er in den 
königlichen Pfalzen wahr; denn diese bilden im Sachsenland die wichtigsten 
Aufenthaltsorte der Könige, sei es Werla, sei es Pöhlde am Harz, sei es Grone 
bei Göttingen.  Eine Pfalz liegt in Tallage; sie ist keine Befestigung wie 
eine abweisende, auf Bergeshöhe errichtete Burg, sie ist lediglich durch einen 
Palisadenzaun bewehrt, umschließt ein System von Wirtschaftshöfen und 
kennzeichnet insgesamt eine Herrschaft, die im Innern keine Feinde zu fürchten 
braucht. Eine Pfalz ist ein wirtschaftliches Zentrum, organisiert zur Versorgung 
des reisenden Hofes. Dieser reisende Hof sucht aber auch gerne die großen 
Reichsstifte wie Gandersheim oder Quedlinburg auf, wo sich die Äbtissin seufzend 
in ihre kostspieligen Gastgeberpflichten fügen musste. Mit Andeutungen haben wir uns begnügen müssen, um zu 
        begründen, warum Heinrichs II. Feststellung nicht ganz aus der Luft 
        gegriffen war. Angesichts des reichen liudolfingischen Hausgutes war der 
        Tisch in den Pfalzen des sächsischen Landes für einen König immer gut 
        gedeckt. Und dazu kam noch etwas weiteres. Im 10. Jahrhundert hatte 
        sich, wohl kaum unabhängig vom ottonischen Königtum, auf 
        wirtschaftlichem Gebiete einiges getan.  An erster Stelle ist hier der Silberbergbau am Rammelsberg zu 
nennen. Natürlich hat dieser Bergbau viel ältere Traditionen, und die schöne 
Legende von der Erschließung der Erzadern zur Zeit Ottos des Großen ist eine 
komprimierte Erzählung, die, wie üblich im Mittelalter, eine Art Zeitraffer und 
keinen konkreten Ablauf darstellt. Aber unzweifelhaft ist, dass erstmals in 
ottonischer Zeit der Silberreichtum des Harzes politisch weitreichendgenutzt 
wird. Ausdruck dafür sind die sogenannten Otto-Adelheid-Pfennige, Münzen mit den 
Bildern des Herrscherpaares, die seit dem ausgehenden 10. Jahrhundert 
massenweise geprägt wurden, die sich in großer Zahl in den skandinavischen 
Münzhorten wiederfinden lassen. Gewiss waren die Otto-Adelheid-Pfennige keine 
Reichswährung gewesen; eine solche steht noch in sehr weiter Ferne, aber sie 
waren monetärer Ausdruck einer wirtschaftlichen Entwicklung, waren deren äußeres 
Zeichen. Wessen Münzen bis nach Skandinavien gebraucht werden, der treibt einen 
weitgespannten Handel, von dem ansonsten wenig in quellenarmer Zeit bekannt ist. Ebenso wortkarg sind die Quellen auch, was einen anderen 
Reichtum sächsischen Landes ausmacht: der Reichtum an Salzquellen. Denn ohne 
Salz, das ja vielfach auch ein Währungssurrogat sein konnte, ist menschliches 
Leben gar nicht denkbar, ganz abgesehen davon, dass auch das Vieh seinen 
Salzbedarf hat. Hier ist nicht nur an die Lüneburger Saline zu denken, die sich 
im Verlauf des Mittelalters zum größten Industriebetrieb Nordeuropas 
entwickelte, hier ist auch an die zahlreicheren kleineren Salinen zu erinnern, 
die zumindest im regionalen Umkreis den Bedarf deckten. So gehörte Gitter mit 
seinen Salzquellen zum Pfalzkomplex Werlas. Eines aber hatte Sachsen damals noch nicht in größerer Zahl 
zu bieten: Kostbarkeiten, die sich in beeindruckenden Kirchenschätzen, in 
aufwendig und kunstvoll gearbeitetem liturgischem Gerät ausdrückten. In dieser 
Hinsicht muss zu Anfang des 10. Jahrhunderts das Sachsenland arm im Vergleich zu 
den oberdeutschen Landschaften gewesen sein. Bei ihren in ganz Europa 
gefürchteten Raubzügen ließen die Ungarn Sachsen beiseite. Sie plünderten 
Klöster in Oberitalien, im deutschen Süden und in Südfrankreich. In Sachsen, so 
wussten sie, war nichts zu holen. Im Jahre 926 jedoch sah für sie die Welt 
anders aus; sie fielen nach Sachsen ein. Dieser Einfall aber hatte wenig mit 
Raub und Plünderung, viel aber mit einem politischen Test zu tun.  Die Ungarn stellten die Frage, was für eine Herrschaft der 
919 in Fritzlar zum König gewählte Ottone Heinrich I. ausübte, wie festgefügt 
das neue Königtum war. Damit sehen wir uns gezwungen, den zunächst so deutlich 
sich abzeichnenden roten Faden, Sachsen als Küche des Reichs, fallen zu lassen 
und nach diesem Reich zu fragen. 2. Königtum und Reich der Ottonen Herrschaft der Ottonen: Als im 15. Jahrhundert Humanisten 
sich um eine Konzeption deutscher Geschichte bemühten, entdeckten sie die damals 
in Vergessenheit geratenen Ottonen wieder: Sie erkannten, dass mit der 
Kaiserkrönung Ottos des Großen 962 eine Schicksalsfrage deutscher Lande 
aufgeworfen und zugleich eine geschichtliche Kontinuität begründet worden war; 
sie erkannten die Bedeutung der ottonischen Herrschaft, die im damaligen Europa 
ihresgleichen suchte. Wie konnte sich aber diese Herrschaft entwickeln, die im 
Sachsenlande begründet war, in einem Land, in dessen Sümpfen und Wäldern am 
Drömling sich 938 selbst ein kriegserfahrenes ungarisches Heer verirrte? Das Reich Karls des Großen war untergegangen, als um 
        die Jahreswende 918/19 Sachsen und ein Teil des fränkischen Hochadels 
        einen neuen König wählten, eben Heinrich I., den ersten Herrscher aus 
        ottonischem Hause. Schon der Name dieses Herrschers, damals in Sachsen 
        ebenso ungewöhnlich wie in deutschen Landen, der Name eines Herrschers, 
        der ihm von seinem Großvater mütterlicherseits gegeben worden war, weist 
        auf Veränderungen der Zeiten. Die Karolinger hießen normalerweise Karl 
        oder Ludwig. Der Name Heinrich sollte aber dann der verbreitetste 
        Königsname der europäischen Geschichte werden.  Mit diesem Hinweis ist am einfachsten zu begründen, was 
Kaisertum in ottonischer Zeit bedeutete; es enthielt noch nicht einmal 
ansatzweise ein imperiales Programm, aber es verbürgte europaweites Ansehen. Das 
drückte sich in Heiratsverbindungen aus, aufgrund derer Namen weitergegeben 
wurden. Heinrich I. war der erste König, der diesen 
        verbreitetsten Namen der europäischen Herrschergeschichte trug. Es war 
        aber alles andere als eine machtvolle Herrschaft, die er antrat. Völlig 
        verfehlt ist das Konstrukt früherer Forschung von einem machtvollen 
        Herrscher, der mit eiserner Hand das Reich einte usw., jenes Konstrukt, 
        das dann die Heinrich I.-Verehrung durch Heinrich Himmler entstehen 
        ließ. Gestatten Sie mir bitte, kurz das Thema zu verlassen und an ein 
        mutiges Zeichen von Gelehrsamkeit in den schlimmen zwölf Jahren zu 
        erinnern. Ein Jahr nach der angeblichen Auffindung der Gebeine 
        Heinrichs I., was von Heinrich Himmler pompös in Szene gesetzt worden 
        war, veröffentlichte ein junger Gelehrter, Carl Erdmann, in der 
        angesehensten Zeitschrift der deutschen Mediävistik einen Aufsatz, der 
        diese „Auffindung" als grobe Fälschung entlarvte. Die Quellen zeigen folgendes Bild von Heinrich I.: Er 
        versuchte seine Herrschaft durch Bündnisse, durch das Prinzip der, wie 
        es in den Quellen heißt, „amicitia", der Freundschaft, zu stärken. Ein 
        gewissermaßen kooperativer Führungsstil schwebte ihm vor und steht auch 
        hinter seinen Worten: Es genügt mir, dass ich vor meinen Vorfahren den 
        Namen des Königs voraus habe. Diese Herrschaft also wollten die Ungarn 
        im Jahre 926 auf ihre Festigkeit prüfen. Ebenso wenig wie ansonsten in 
        Europa stießen sie auf Feinde, die ihnen gewachsen waren. Dabei muss 
        daran erinnert werden, dass die Ungarn kein wildes, zügelloses 
        Reitervolk waren, sondern eine Heeresorganisation besaßen, die an 
        Disziplinierung und taktischer Schulung der Reiterei in ganz Europa weit 
        überlegen war, Scheinangriffe ebenso wie scheinbare Fluchtbewegungen, 
        die dann in einer plötzlichen Kehrtwendung zu einem unerwarteten Angriff 
        führten, zu inszenieren vermochte. Siegreich drangen sie zunächst in 
        Sachsen ein. Es blieb Heinrich I. nur, betend in der Pfalz Werla die 
        Hilfe Gottes zu erflehen. Und es kam zur überraschenden Wendung des 
        Kriegsglücks. Den Sachsen gelang es, einen der Führer der Ungarn 
        gefangen zu nehmen. Um ihn zu befreien, willigten die Ungarn in einen 
        sechsjährigen Frieden, verlangten allerdings erhebliche Tribute. Diese 
        Wendung veränderte die Stellung des Königs in deutschen Landen. Erst mit 
        dem Jahre 926 nehmen süddeutsche Chronisten von der Herrschaft Heinrichs 
        I. überhaupt Notiz.  Zu übergehen ist die weitere Geschichte, die Frage 
        stellt sich, ob wir mit dieser Schilderung der Anfänge ottonischer 
        Herrschaft nicht geradewegs eine Forschungsauffassung bestätigen, die 
        der Herr Präsident einleitend angesprochen hat, jene Auffassung, wonach 
        das Reich der Deutschen erst Ende des 11. Jahrhunderts entstanden sei, 
        als sich der Name Regnum Teutonicum, Reich der Deutschen - übrigens nur 
        vorübergehend - verbreitet. Unzweifelhaft: Bis tief ins elfte 
        Jahrhundert hinein wird nur von einem Regnum, von einem Reich ohne jeden 
        weiteren Zusatz gesprochen. Der König heißt „rex", nach der 
        Kaiserkrönung natürlich Imperator, beides ohne jeden weiteren Zusatz. 
        Von Deutschland oder von deutsch ist nicht die Rede.  Zu erinnern ist ein tiefes Wort Lichtenbergs: Es 
        mache einen großen Unterschied aus, immer noch zu glauben oder wieder zu 
        glauben. Immer noch zu glauben, dass Heinrich I. das deutsche Reich mit 
        eiserner Hand begründet habe, ist Unfug. Aber wieder zu glauben, dass 
        dieses Reich in ottonischer Zeit entstanden war, eine Leistung des 
        Herrschergeschlechtes ebenso war, wie die der Stämme, wobei an erster 
        Stelle der Sachsen zu gedenken ist, kann - frei nach Lichtenberg - von 
        Einsicht zeugen. Zu den bekanntesten Quellen des deutschen Mittelalters 
        gehört der Bericht über die Königswahl Ottos I. 936, ein Bericht, der 
        den zeremoniellen Abschluss der Königserhebung mit dem Dienst der 
        Herzöge der deutschen Stämme für den neu gewählten König einlässlich 
        schildert.  Als Kämmerer, Truchseß, Marschall und Schenk wird der neue 
König von den Repräsentanten der Stämme beim abschließenden Königsmahl bedient. 
Ausdruck eines Gemeinschaftsbewusstseins. Dieses zeichnet sich in jener Zeit 
unter anderem auch darin ab, dass nach Ausweis des Namenbestandes - viele 
Hochadelige heißen Gunther oder Siegfried - das Nibelungenlied zum gemeinsamen 
Erzählstoff in deutschen Landen gehört.  Eine auf den ersten Blick eher unscheinbare Urkunde 
        Ottos I., die erste Urkunde überhaupt, die von ihm überliefert ist, 
        erweist, wie der Herrscher selbst über sein Königtum dachte. Im Jahre 
        936 urkundet er über die Schutzherrschaft des Klosters Quedlinburg. Das 
        Kloster war eine ottonische Gründung. Der Schutz stand nach 
        herkömmlicher Auffassung den Nachfahren des Klostergründers zu, 
        Eigenkirchenrecht. Aber Otto I. denkt in bemerkenswerter Weise über 
        dynastische Interessen hinaus. Er bestimmt, wenn ein anderer als jemand 
        aus seinem Hause zum König gewählt würde, dann soll dieser König die 
        Schutzherrschaft über das Kloster wahrnehmen. Das familiengebundene 
        Eigenkirchenrecht ist hier zugunsten eines neu definierten Königsrechts 
        aufgegeben worden. Und das heißt doch: Das Königtum ist eine eigene 
        Größe, ist eine Institution, die mit den stammesgebundenen 
        Familienverbänden nichts mehr zu tun hat. Im Kern ist hier der Gedanke verborgen, dass es statt 
        personaler Herrschaft um transpersonale Institutionen, also um ein Reich 
        geht. 1025 sollte diesem Gedanken der erste Salier auf dem Königsthron, 
        Konrad II., gegenüber den Bürgern von Pavia klaren Ausdruck geben: Wenn 
        der König sterbe, bleibe doch das Reich bestehen. Zur Transpersonalität, zum institutionellen 
        Reichsbegriff gehört ein zentraler Gedanke: Dieses Reich ist nicht mehr 
        teilbar, es ist eine unteilbare, eine überzeitliche Größe. Anfänge des 
        europäischen Staatsgedankens. Zur Verdeutlichung: Die Nachfolger Karls 
        des Großen hatten ihre Herrschaft immer wieder geteilt. Das neue Regnum 
        aber war, auch wenn es noch keinen klärenden Namen in Gestalt eines 
        Adjektivs deutsch trug, ein unteilbares Reich. Alle Autoren, die sein 
        Entstehen in das späte 11. Jahrhundert verlegen, übersehen einen 
        schlichten Sachverhalt. Damals hatte gerade die heftige 
        Auseinandersetzung zwischen Sachsen und dem salischen Königtum getobt, 
        eine Auseinandersetzung, die an Schärfe und Wahrnehmung des 
        Widerstandsrechtes und nicht zuletzt an seiner langen, eine Generation 
        währenden Dauer nichts Vergleichbares in der damaligen europäischen 
        Geschichte kannte. Aber selbst während dieser heftigen 
        Auseinandersetzung war niemals von den Sachsen der Gedanke erwogen 
        worden, sich vom Reich zu lösen. So sehr die Wahrung der Rechte ihres 
        Stammes ihnen angelegen war, so häufig der Begriff „patria", Vaterland, 
        in ihrer Argumentation auftauchte: An eine Trennung vom Reich dachten 
        sie zu keiner Zeit. Dieses Reich war ihnen inzwischen eine 
        selbstverständliche Größe geworden. Erbe, wie wir feststellen, der 
        ottonischen Zeit. Auf eine Abfolge von Geschichtsdaten hatten wir, 
        selbst den großen Sieg über die Ungarn 955 auf dem Lechfeld übergehend, 
        verzichtet, um das Wesentliche herauszuarbeiten, den tiefen Wandel, der 
        im Reichsbegriff der ottonischen Zeit gegenüber der karolingischen 
        Tradition liegt. Und dieser Wandel war nicht nur von einem 
        Herrscherhaus, sondern auch von einem Stamm getragen, der für die 
        Karolinger noch am Rande Europas lag. Nur ein Beispiel: Als nach 835 
        Erzbischof Ebo von Reims politisch untragbar geworden war, wurde er als 
        einfacher Bischof nach Hildesheim versetzt, oder eigentlich verbannt. 
        Sachsen das karolingische Sibirien und hundert Jahre später die Küche 
        des Reiches? 3. Die Küche des Reiches Zu Zeiten des erwähnten großen Kampfes zwischen Sachsen und 
dem salischen Königtum schrieb am fernen Bodensee ein Mönch, der Chronist des 
Klosters Petershausen, dass Sachsen die Küche des Reiches sei.  Zwischen dem Sachsenlob Heinrichs II. und der Behauptung des 
Mönches aus Petershausen scheint auf den ersten Blick kein großer Unterschied zu 
bestehen, bezeichnen doch beide Zitate gemeinsam, dass Sachsen die ökonomische 
Basis des ottonischen Königtums gebildet hatte. Die Äußerung des Petershauser 
Mönches aber hat einen Widerhaken. Was heißt denn Küche in der damaligen Zeit? 
Zunächst einmal: Die Küche ist das ganze Mittelalter hindurch ein äußerst 
ungemütlicher Arbeitsplatz. Im 10. Jahrhundert hatte sie angesichts der damals 
vorherrschenden Wirtschaftsverfassung, der sogenannten Fronhofsorganisation, 
eine besondere Bedeutung: Sie stellte, an einem Haupthof in Herrschaftsnähe 
angesiedelt, zugleich die Versorgung auch der Menschen, die in den 
Sonderkulturen der Nebenhöfe arbeiteten, sicher. Küche meint also unter den 
damaligen wirtschaftlichen Bedingungen: Zwang zur Gemeinschaftsverpflegung und 
damit Dienst. Und genau das benannte der Mönch von Petershausen: Die Sachsen 
sollten dem Reich dienen, sie sollten mit ihrer Leistungsfähigkeit ihm zur 
Verfügung stehen. Verwickelte Zusammenhänge stehen hinter dieser scheinbar 
klaren Äußerung. Dienst auf der einen, Herrschaftsnähe auf der anderen Seite. 
Wir lösen diese schwierigen Zusammenhänge mit einem einfachen Hinweis: Zur Küche 
gehörten auch die Brotkneterin und der Brotkneter, Leute, die sich - im 
Mittelalter äußerst schwierig - die Hände haben waschen müssen. Sicherlich 
Diener, auf der anderen Seite aber auch Diener in Herrschaftsnähe. Die englische 
Sprache bewahrt die Probleme. Aus der „hloefdige" der Brotkneterin und der 
entsprechenden Bezeichnung für den Brotkneter entwickeln sich Lady und Lord, aus 
der Bezeichnung für einen Diener also ein Adelstitel.  Der Mönch in Petershausen formulierte knapp das 
        Programm Heinrichs IV. Aber damit scheiterte der Salier völlig - und das 
        war in ottonischer Zeit angelegt. Denn schon damals begnügten sich die 
        Sachsen nicht damit, dass einer ihrer Herren zugleich König des Reiches 
        war, sie dachten auch unter einem ottonischen König zunächst einmal an 
        die Rechte und die Würde ihres Stammes. 4. Widukind von Corvey und das sächsische 
        Stammesbewusstsein Scheinbar verliere ich endgültig den roten Faden 
        meiner Darstellung, wenn ich Ihnen den bedeutendsten Geschichtsschreiber 
        des 10. Jahrhunderts darstelle; und selbst wer mit mir die Einschätzung 
        teilt, dass Kultur - was heute bisweilen in Zweifel gezogen wird - ein 
        Teil des Wohlstandes ist, kann mir vorwerfen, dass ich die kulturelle 
        Entwicklung Sachsens im 10. Jahrhundert doch viel besser an den 
        Kanonissenstiften darstellen sollte. Denn vor allem diese Stifte, die 
        sich von Nonnenklöstern dadurch unterscheiden, dass sie den 
        Konventualinnen größere Freiheitsräume gestatten, hatte der sächsische 
        Hochadel im 10. Jahrhundert gegründet. Mit dem Namen Hrotsvit von 
        Gandersheim, der - wie der deutsche Erzhumanist Konrad Celtis sie nannte 
        - ersten deutschen Dichterin, verbindet sich die Erinnerung an eine 
        kulturelle Blüte, singulär im damaligen Europa. Wenn ich Widukind von 
        Corvey in den Mittelpunkt stelle, so deshalb, weil er der beredetste 
        Zeuge für ein sächsisches Stammesbewusstsein unabhängig von der 
        Königsherrschaft ist, weil er bezeugt, dass so monolithisch, wie in der 
        älteren Forschung dargestellt, die ottonische Herrschaft gar nicht 
        gewesen sein konnte, dass sie sich nicht nur mit divergierenden 
        politischen, sondern auch mit divergierenden Stammesinteressen 
        auseinander zu setzen hatte. Von Selbstbewusstsein zeugt der Beginn von Widukinds Chronik. 
Er habe genug Heiligengeschichten abgeschrieben. Nun wolle er sich der 
Geschichte seines Hauses und seines Stammes zuwenden. Seines Hauses: Der Name 
Widukind zeigt, dass inzwischen der Repräsentant sächsischen Widerstandes gegen 
die Herrschaft Karls des Großen im Namengut des Hochadels, hier des 
immendingischen Familienverbandes in ehrender Erinnerung weiterlebt; Stamm - das 
ist für Widukind eine Größe, die zwar auch das ottonische Haus einschließt, die 
aber auch außerhalb des ottonischen Hauses einen einheitlichen Rechtsverband 
bildet. Der selbstbewusste Auftakt seiner Chronik muss unter realgeschichtlichen 
Bedingungen gewürdigt werden.  Denn es ist nicht so, dass im 10. Jahrhundert ein Mönch 
schreiben konnte, was er wollte; dazu war das Pergament, aus Kuh- oder 
Schafshaut gewonnen, viel zu teuer. Man muss sich die Mühe vorstellen, die es machte, überhaupt 
Beschreibstoffe herzustellen, die Mühen, die das Enthaaren der Häute ebenso 
einschloss wie das Abreiben und Glätten mit dem Bimsstein, das mühsame 
Punktieren der Schreiblinien und nicht zuletzt die problematische Herstellung 
der Tinte, um zu ermessen: Das Beschreiben eines solch kostbaren Stoffes musste 
im Kloster gebilligt worden sein, Schreiben ist also konsensgebunden. In der 
Abtei Corvey, deren Mönche sächsische Adelssöhne waren, bestanden offenbar keine 
Bedenken, dass der Mitbruder Widukind sich nicht nur frommem Gebet und der 
Herstellung liturgisch wichtiger Handschriften hingab, sondern die Geschichte 
seines Stammes schrieb und dabei viel Pergament verbrauchte. Gewiss, für 
flüchtige Notizen hatte man die Wachstäfelchen, aber auf diesen handlichen 
Täfelchen war noch nicht einmal eine einzelne historische Begebenheit 
darzustellen. Ich würde wirklich den Faden verlieren, wenn ich Ihnen die 
spannenden Geschichte erzählen würde, die Widukind überliefert, Geschichten, die 
ihn als einen, wie man gesagt hat, „Spielmann im Mönchsgewand" erscheinen 
lassen. Wichtig erscheint mir hingegen, zu untersuchen, wo dieser Chronist die 
Fakten umbiegt, aus welchen Gründen er dies tut, und wo er wichtige Sachverhalte 
einfach unterschlägt; gerade in diesen Fällen zeigt sich Grundsätzliches: 
Ottonische Herrschaft und sächsischer Stamm hatten keine deckungsgleichen 
Interessen. Der viel zitierte Bericht über die Königswahl Ottos 
        I. stammt in seiner anschaulichen und detailgenauen Darstellung 
        natürlich der Feder Widukinds. Der Mönch aber leitet seinen Bericht mit 
        einer waghalsigen Deutung ein, warum die Krönung Ottos in Aachen 
        stattfand, und zwar deshalb, weil Aachen in der Nähe von Jülich läge und 
        Jülich hätte den Namen von Julius Caesar. Daran hat natürlich niemand 
        bei der Inszenierung der Wahl von 936 gedacht; man wählte Aachen als die 
        karolingische Traditionsstätte und stellte sich damit in eine 
        karolingische Tradition. Aber genau davon wollte Widukind nichts wissen. 
        Wenn schon eine Tradition, dann die der Antike. Also nicht Karl der 
        Große, sondern Julius Caesar. Dahinter verbirgt sich Stammesbewusstsein. 
        Das Reich des Königs aus sächsischem Hause steht nicht in der Nachfolge 
        der Karolinger. Es ist eine Neuschöpfung, welche die von Widukind so 
        bewunderte Antike wieder aufleben lassen soll. Das war mitnichten nur 
        gelehrt versponnen, das war ein Widerspruch gegen das Bemühen des 
        Herrscherhauses, an die karolingischen Traditionen, etwa in der 
        Pfalzenorganisation, anzuknüpfen. Widerspruch gegen die Politik des Herrscherhauses. Wenn 
heutzutage überhaupt noch etwas von der Leistung Ottos des Großen allgemeiner 
bekannt ist, dann die Gründung Magdeburgs, des als Missionserzbistum in den 
Osten hineinwirkenden Erzbistums und die Kaiserkrönung in Rom 962. Über beide 
Sachverhalte schweigt Widukind beharrlich. Und das ist kein Versehen, das ist 
ein beredtes Schweigen. Die Gründung Magdeburgs sah man im traditionsreichen 
Kloster Corvey mit großer Distanz, vielleicht sogar mit Unmut. Dabei ging es 
nicht um die politischen Konzeptionen der sogenannten Ostmission, die in 
Wahrheit ein brutaler Überherrschaftungsvorgang war, sondern um den neuen, den 
fremden Heiligen, unter dessen Patrozinium, den himmlischen Schutz das Erzbistum 
stehen sollte, den hl. Mauritius. Der Heilige des Sachsenlandes war seit alters 
her der Patron des Klosters Corvey, der hl. Vitus, jener Heilige, der die 
Ausstrahlung Corveys begleiten sollte vom hl. Veit zu Staffelstein bis hin zum 
Prager Veitsdom. Deswegen verschweigt Widukind die Gründung Magdeburgs und 
erwähnt statt dessen, dass Otto I. von schwerer Krankheit erst genas, als er den 
hl. Vitus anflehte. Nicht der fremde, sondern der bewährte Heilige, der des 
Klosters Corvey, hatte geholfen. Noch handgreiflicher in seiner Opposition gegen die 
        Politik Ottos I. ist Widukinds Verschweigen der Kaiserkrönung, jenes 
        Ereignisses, das Hrotsvit ihren Mitschwestern in Gandersheim als Folge 
        einer romantischen, von abenteuerlichen Zufällen begleiteten 
        Liebesgeschichte geschildert hatte. Was die Konventualinnen in 
        Gandersheim faszinierte, übergeht Widukind wortlos. Dabei aber hat er 
        ein Problem.  Otto I. heißt inzwischen „Imperator". Das erklärt der 
Chronist ganz anders als mit der römischen Krönung. Er lässt nach dem Sieg auf 
dem Lechfeld 955 das Heer den Herrscher zum Kaiser ausrufen. Eine Reminiszenz 
gelehrter Art an das antike Heerkaisertum gewiss. Er erklärt damit, dass Otto 
Kaiser geworden ist, aber Kaiser, der als solcher von allen deutschen Stämmen 
ausgerufen wurde, nicht Kaiser, der im fernen Rom gekrönt wurde. Das läuft 
keineswegs auf den abgestandenen Gedanken eines romfreien Kaisertums hinaus, den 
die ältere Forschung erfunden hatte. Widukind geht es um etwas ganz anderes. Wir 
merken das an versteckter Stelle, als er einmal Livius zitiert und dessen 
Bemerkung zustimmend übernimmt, wonach das römische Reich an seiner Größe zu 
leiden begann. Das artikuliert die aktuelle Sorge des Corveyer Mönchs. Indem er 
Livius zustimmend zitiert, erinnert er nicht an antike Geschichte, sondern 
kommentiert politische Probleme seiner Zeit. Tatsächlich gehört Widukind in die lange Reihe derer, 
        die erkannt haben, dass das, was an räumlicher Ausweitung gewonnen wird, 
        an institutioneller Tiefe verloren geht. Und in diesem Zusammenhang ist 
        daran zu erinnern, wer nach Widukind im Jahre 955 den Imperator ausruft: 
        das aus allen Stämmen zusammengesetzte siegreiche Heer. 
        Gemeinschaftsbewusstsein über Stammesgrenzen hinaus. Widukind steht nicht allein mit seiner Opposition 
        gegen die ottonische Kaiserpolitik, mit einer Opposition, die er zwar 
        nicht artikulieren, aber durch dröhnendes Schweigen über die 
        Kaiserkrönung kenntlich machen kann. Opposition: Ein spektakulärer Fall. 
        Hermann Billung lässt sich 972 während des zweiten Romzuges Ottos I. vom 
        Erzbischof von Magdeburg feierlich, fast wie ein König nach Magdeburg 
        geleiten und legt sich - welch ein Skandal! - sogar in das Bett des 
        Königs. Zeremonieller Ausdruck oppositioneller Haltung, die offenbar von 
        vielen sächsischen Adeligen geteilt wurde. Der Kaiser straft, und er 
        straft hart. Der Erzbischof muss so viele Panzerreiter auf seine Kosten 
        nach Italien schicken, wie er Kerzen in den Kronleuchtern der Domkirche 
        zu Ehren Hermann Billungs angezündet hatte. Eine solche Strafe spüren 
        die Domherren bei ihren Mahlzeiten. Denn es ist überaus kostspielig, 
        einen solchen Panzerreiter auszurüsten, und das geht auf Kosten der 
        Versorgung der Domgeistlichkeit. Unterhalb des ottonischen Kaisertums lebte also ein 
        sächsisches Selbstbewusstsein, ein Selbstbewusstsein, das aber nicht mit 
        Partikularismus verwechselt werden kann. Denn das Reich war für Widukind 
        ebenso wie für seine sächsischen Mitbrüder eine nicht zuletzt auf die 
        Kirchenorganisation begründete Größe. Unklar musste noch lange bleiben, 
        in welchem Verhältnis Herrscher des Reiches und Stamm zueinander 
        standen. Wer Sachsen als Küche des Reiches bezeichnet, geht von einem 
        Abhängigkeits-, ja sogar einem Untertänigkeitsverhältnis aus. Das war 
        natürlich nicht die Sicht der Sachsen; sie bemühten sich aber um Regeln, 
        um die Anfänge von Verfassung. Das erwies sich in einem scheinbar 
        marginalen Vorgang, der gleichwohl den Anfang einer grundlegenden 
        Verfassungsentwicklung Europas bezeichnet. Hochgestochene Worte? Wir 
        werden sehen. 5. Die Sachsen und die Königswahl Heinrichs II. Im Jahre 1002 wurde der letzte Herrscher aus 
        ottonischem Hause, Heinrich II., der später als Gründer des Bistums 
        Bamberg heilig gesprochen wurde, nahezu handstreichartig in Mainz 
        gewählt. An dieser Wahl hatten die Sachsen nicht teilgenommen. Das ist 
        um so erstaunlicher, als gerade sie die Kandidatenfrage in den Monaten 
        zuvor wohl am intensivsten, harte Kontroversen nicht scheuend erwogen 
        hatten. Musste es unbedingt ein Angehöriger des ottonischen Geschlechts 
        sein, oder war das Reich nicht tatsächlich trotz der Sohnesfolge dreier 
        Ottonen ein Wahlreich? Heinrich II. reiste nach Sachsen, um den Stamm 
        für sich zu gewinnen. Das gelang, und auch eine zeremonielle 
        Schwierigkeit wurde gemeistert. Heinrich war bereits zum König gekrönt 
        worden, bevor die Sachsen ihn anerkannten.  Wie nun in einer Welt, in der dem Zeremonialhandeln 
        zentrale Bedeutung zukam, den Sachverhalt verdeutlichen, dass nunmehr 
        die Sachsen Heinrich II. anerkannt hatten? Die Lösung: In einer neu 
        erfundenen, gleichwohl feierlichen Zeremonie wurde die Gattin des 
        Königs, Kunigunde, in Paderborn gekrönt. Soweit der äußere Ablauf der Ereignisse, in dem eine 
        ganz zentrale Handlung verborgen ist. Erst als Heinrich II. den Sachsen 
        versprochen hatte, all ihre Rechte zu wahren, überreichte ihm Herzog 
        Bernhard Billung als Zeichen der Anerkennung zum König das Reichssymbol 
        der heiligen Lanze. Zentral ist dabei nicht das Reichssymbol, zentral 
        ist der Vorgang, ein Sicherheitsversprechen des neuen Königs und die 
        sich daran anschließende Anerkennung durch den sächsischen Stamm. Das 
        erste Mal in der europäischen Verfassungsgeschichte liegt hier der Kern 
        eines Herrschaftsvertrages vor, einer Vertragsform, wie sie vielleicht 
        am bekanntesten in der englischen Magna Carta von 1215 ist und wie sie 
        grundlegend wurde für das Verfassungsdenken und die moderne 
        Staatlichkeit.  Küche des Reiches war, wie wir gesehen hatten, eher 
        abschätzig gemeint gewesen. Aber der Begriff führte dazu aus sächsischer 
        Perspektive den Hintergrund ottonischer Herrschaftsgeschichte 
        aufzuhellen. Mit der Entstehung des Reiches, das später heiliges Reich 
        und um 1500 heiliges römisches Reich deutscher Nation war, war von 
        Anfang an der föderale Gedanke verbunden gewesen. Zu erinnern ist nicht nur an die Politik Heinrichs 
        I., in deren Mittelpunkt die Freundschaftsverbindungen standen, zu 
        erinnern ist auch an das Krönungsspiel des Jahres 936 mit seinem 
        zeremoniellen Herzogsdienst. Der sächsische Stamm artikulierte am 
        deutlichsten, worum es im Ursprung dessen ging, was späterhin zum 
        Föderalismus wurde: Wahrung der eigenen Selbständigkeit in Gestalt des 
        eigenen Rechts bei gleichzeitiger Verantwortung für das Ganze, für das 
        Reich. Nicht nur die Anfänge des deutschen Reiches, sondern auch die 
        seiner föderalen Struktur sind in ottonischer Zeit unter maßgebendem 
        Anteil Sachsens entwickelt worden. Anfang |